Ob der Geschädigte eines unverschuldeten Unfalls auf Reparaturkosten- oder auf Totalschadensbasis abrechnen kann, ergibt sich aus dem sogenannten „Vier-Stufen-Modell“ des Bundesgerichtshofs (BGH). Danach sind vier Abrechnungsstufen zu unterscheiden; die Unterteilung folgt der Schwere des Schadens.
Die Besonderheiten bzgl. der Abrechnung in Stufe 3 möchten wir Ihnen heute näher erläutern. Die Abrechnung der anderen Stufen finden Sie in unserem Lexikon.
Die Stufe 3 ist heranzuziehen, wenn der Brutto-Reparaturaufwand (=Reparaturkosten zzgl. eventuellem merkantilem Minderwert) maximal 130 % des Brutto-Wiederbeschaffungswert (WBW) beträgt. Die Nettowerte sind in Ansatz zu bringen, wenn der Geschädigte zum Vorsteuerabzug berechtigt ist.
Maßgeblich ist stets die Prognose des Sachverständigen.
Die „130-Prozent-Rechtsprechung“ gilt für alle Fahrzeugarten, auch für gewerblich genutzte Fahrzeuge, wie zum Beispiel Lkw und Taxen (BGH, Urteil vom 08.12.1998, Az. VI ZR 66/98).
Eine Reparatur im Rahmen der 130 % Grenze belastet den Schädiger im Vergleich zu einer Totalschadenabrechnung erheblich. Die Abrechnung innerhalb dieser Grenze wird mit dem Integritätsinteresse des Geschädigten gerechtfertigt.
Der Geschädigte kann Ersatz der Reparaturkosten nur unter strengen Voraussetzungen verlangen.
- Der Geschädigte muss sein Fahrzeug vollständig und fachgerecht reparieren lassen (BGH, Urteil vom 15.02.2005, Az. VI ZR 70/04).
- Er muss das Fahrzeug mindestens sechs Monate weiter nutzen. Der Sechs-Monats-Zeitraum beginnt mit dem Unfalltag und nicht erst mit dem Ende der Reparatur (BGH, Urteil vom 22.4.2008, Az. VI ZR 237/07).
Die „Sechs-Monats-Frist“ ist aber keine Fälligkeitsvoraussetzung (BGH, Beschluss vom 18.11.2008, Az. VI ZB 22/08; und BGH, Beschluss vom 24.03.2009, Az. VI ZR 71/08). Der Versicherer muss daher sofort in voller Höhe Schadenersatz leisten und darf gegebenenfalls die Integritätsspitze vom Geschädigten zurückverlangen, wenn dieser sich zu früh von dem Fahrzeug trennt. - Die Reparatur muss in einem Umfang erfolgen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Schadenschätzung gemacht hat (BGH, Urteil vom 15.10.1991, Az: VI ZR 314/90).
Nicht ausreichend ist eine Teil- bzw. Billigreparatur.
Zeigt sich erst während der Reparatur, dass der Schaden höher ist, als vom Schadengutachter prognostiziert, liegt dieses Prognoserisiko in der Sphäre des Schädigers bzw. des Versicherers (LG Ulm, Urteil vom 15.05.2015, Az. 2 O 317/14; LG Köln, Urteil vom 04.06.2014, Az. 9 S 22/14). Die Versicherung des Schädigers muss dennoch die Reparaturkosten bezahlen. Das ergibt sich aus dem schadenrechtlichen Grundsatz „das Prognoserisiko trägt der Schädiger“. Der Geschädigte ist technischer Laie und darf sich auf das Gutachten verlassen.
Rechnung niedriger als Prognose
Es gibt auch Fälle, in denen die Reparaturkosten nach der gutachterlichen Prognose oberhalb der 130 % Grenze liegen. Die durchgeführte vollständige und fachgerechte Reparatur kostet dann aber etwas weniger und bleibt im Toleranzbereich, z.B. weil mit den Preisen der einen Werkstatt kalkuliert wurde, der Geschädigte aber eine andere Werkstatt mit niedrigeren Preisen wählt. Das ist möglich. Oder: Die mit Neuteilen kalkulierten Kosten werden durch die Verwendung von Gebrauchtteilen unter die Grenze von 130 % gezogen. Auch das ist zulässig – mit Gebrauchtteilen reparieren geht immer (BGH, Urteil vom 02.06.2015, Az. VI ZR 387/14).
Reparatur nicht gemäß Gutachten durchgeführt
Wenn das Fahrzeug nicht entsprechend den Vorgaben des eingeholten Sachverständigengutachtens repariert wird, z.B. weil Ersatzteile verbaut werden, welche nicht Originalersatzteile sind, oder das Frontblech abweichend vom Gutachten nur auf einer Seite erneuert wird, ist die Abrechnung nach den in Rechnung gestellten Reparaturkosten nicht mehr möglich (vgl. KG Berlin, Urteil vom 14.12.2017, AZ. 22 U 241/13).
Vielmehr kann die Haftpflichtversicherung den Geschädigten dann auf die Reparaturkosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts verweisen, sofern eine Teilreparatur mit entsprechendem Nachweis durchgeführt wird.
Sollte gar keine Reparatur durchgeführt werden, erhält der Geschädigte nur noch den Wiederbeschaffungsaufwand (also Wiederbeschaffungswert abzgl. Restwert).
Beides kann zu einer erheblichen Schadenlücke beim Geschädigten führen.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Die Reparatur des verunfallten Fahrzeugs muss vollständig und fachgerecht und in dem Umfang erfolgen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Schadenschätzung gemacht hat.
Durch die Verwendung von Gebrauchtteilen können in Ausnahmefällen die mit Neuteilen kalkulierten Reparaturkosten unter die 130 % Grenze gezogen werden.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Die Feststellungen des Sachverständigen sind maßgeblich für die Entscheidung der Frage, ob eine Reparatur im Rahmen der 130 % Grenze möglich und wirtschaftlich sinnvoll ist. Der Geschädigte darf sich auf die Feststellungen des Sachverständigen weitgehend uneingeschränkt verlassen und auf deren Grundlage den Reparaturauftrag erteilen. Mithin kommt dem Sachverständigen eine tragende Rolle zu.
Übersieht der Schadengutachter in vorwerfbarer Weise eine Schadenposition, sodass der prognostizierte Schaden unter der 130-Prozent-Grenze, der tatsächliche Schaden aber darüber liegt, haftet der Gutachter dem Versicherer für die erhöhten Regulierungsaufwendungen.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Für den Geschädigten geht es um die Entscheidung, ob repariert werden kann, oder nicht. Von dieser getroffenen Entscheidung hängt dann vieles ab.
130 % Fälle sind knifflig – für den Geschädigten empfiehlt es sich daher, bereits vor der Reparatur sachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen und die Voraussetzungen der 130%-Abrechnung zu überprüfen. Damit können am Schluss Fehlbeträge vermieden werden.