Kollisionen beim Ein-und Ausparken sind eigentlich wenig „dramatisch“: Personen kommen in der Regel nicht zu Schaden, meist geht es nur um ein paar Beulen am Fahrzeug. Dennoch sind diese Unfälle in aller Regel sehr ärgerlich und führen oft zur Haftung beider Beteiligten. Auch ist meist jeder der Beteiligten der Meinung, nicht schuld gewesen zu sein. Über einen nicht ganz alltäglichen Unfall, der sich beim Ausparken auf einer Einbahnstraße ereignet hat, hat der Bundesgerichtshof erst kürzlich mit Urteil vom 10.10.2023, Az. VI ZR 287/22, entschieden.
Sachverhalt:
Der Kläger hatte sein Fahrzeug vorwärts in einer Grundstückszufahrt geparkt, die sich im rechten Winkel an einer Einbahnstraße in Fahrtrichtung rechts befand. Die Beklagte war mit ihrem Fahrzeug zunächst in Fahrtrichtung der Einbahnstraße an der Grundstückszufahrt vorbeigefahren. Sie hielt dann im Bereich einer gerade freiwerdenden Parklücke, die sich links parallel zur Fahrbahn befand und etwa auf Höhe der Grundstückszufahrt begann. Der Kläger führ rückwärts aus der Grundstückszufahrt in einem Rechtsbogen auf die Einbahnstraße aus. Die Beklagte zu 1 fuhr auf der Einbahnstraße einige Meter rückwärts, um dem aus der Parklücke herausfahrenden Fahrzeug Platz zu machen. Es kam zur Kollision, das Fahrzeug des Klägers wurde an der linken Seite beschädigt.
Der Schaden des Klägers wurde außergerichtlich zu 40 % reguliert, der Kläger macht nun gerichtlich die restlichen 60 % geltend. Das Landgericht hatte dem Kläger 40 % zugesprochen und ausgeführt, dass für das Verschulden des Klägers zwei Anscheinsbeweise stritten. Er habe zum einen gegen § 10 Satz 1 StVO verstoßen, indem er rückwärts auf die vorfahrtsberechtigte Einbahnstraße einfuhr und so die Vorfahrt der Beklagten zu 1 missachtete. Zudem habe er gegen § 9 Abs. 5 StVO verstoßen, weil er rückwärtsgefahren sei und andere Verkehrsteilnehmer gefährdet habe. Dass der Beklagte zu 1 dabei entgegen der Einbahnstraße rückwärtsgefahren sei, hätte der Kläger einkalkulieren müssen.
Entscheidung:
Der Begründung des Landgerichts hat sich der BGH nicht angeschlossen. Die Ausführungen zu der Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge sind rechtsfehlerhaft.
Der Anscheinsbeweis des § 9 Abs. 5 StVO zu Lasten des Klägers greift hier nicht. Grundsätzlich ist es zwar so, dass gegen denjenigen, der rückwärts von einem Grundstück auf die Straße einfährt, der erste Anschein spricht, dass er seinen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen ist und somit den Unfall (mit-)verursacht hat. Ein Anscheinsbeweis kommt aber nur dann zur Anwendung, wenn ein typischer Geschehensablauf feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung den Schluss auf ein schuldhaftes Verhalten rechtfertigt. Dies setzt voraus, dass es sich um einen Sachverhalt handelt, für den nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Das Unfallgeschehen muss nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet wird, schuldhaft gehandelt hat.
Dies ist hier gerade nicht der Fall. Die für den Anscheinsbeweis erforderliche Typizität liegt nicht vor, weil die Beklagte zu 1 die Einbahnstraße in falscher Richtung rückwärts befahren hat. Es gibt gerade keinen Erfahrungssatz, wonach sich der Schluss aufdrängt, dass derjenige, der rückwärts aus der Grundstückseinfahrt auf die Einbahnstraße einfährt, schuld ist. Denn er muss nicht damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer die Einbahnstraße in falscher Richtung befahren.
Das Vorschriftszeichen 220 (Einbahnstraße) gebietet, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren werden darf. Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Zulässig ist lediglich ein unmittelbares Rückwärtseinparken („Rangieren“) sowie ein Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße. Nicht erlaubt ist es aber, wenn – wie hier – einige Meter rückwärts entgegen der Fahrtrichtung gefahren werden.
Das Urteil des Landgerichts war daher aufzuheben. Der BGH hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Bei der Prüfung, ob der Kläger gegen § 9 Abs. 5 und § 10 Satz 1 StVO verstoßen hat, wird das Landgericht zu berücksichtigen haben, dass der Kläger nicht damit rechnen musste, dass andere Verkehrsteilnehmer die Einbahnstraße in falscher Richtung benutzen.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Unfälle beim Ein- und Ausparken mit zwei Rückwärtsfahrenden sind und werden strittig bleiben. Wer haftet, ist oftmals eine Frage des Einzelfalls. Es sollte daher vor Beginn der Reparatur auch abgeklärt werden, ob der Kunde eine Vollkaskoversicherung hat, damit der restliche Schaden ggf. über das sog. Quotenvorrecht (vgl. unser Newsletter 26/2020) abgerechnet werden kann.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Sachverständigen gilt dasselbe wie für das Autohaus.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Am besten ist es, wenn beide Autofahrer beim Ein- und Ausparken grundsätzlich aufeinander Rücksicht nehmen. Allerdings muss derjenige, der rückwärts auf die Einbahnstraße ausparkt, nicht damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer die Einbahnstraße in falscher Richtung befahren. Das ist nämlich nicht erlaubt. Zulässig in der Einbahnstraße ist lediglich ein Rangieren zum Rückwärtseinparken sowie das Rückwärtseinfahren von einem Grundstück auf die Einbahnstraße.