Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich im Januar in fünf Urteilen detailliert über die Ersatzfähigkeit von Kfz-Reparaturkosten im Falle des Werkstattrisikos (Urteile vom 16.01.2024, Az. VI ZR 38/22, VI ZR 239/22, VI ZR 253/22, VI ZR 266/22 und VI ZR 51/23, vgl. unser Newsletter 02/2024) und im März über die Ersatzfähigkeit von Sachverständigenkosten im Falle des Sachverständigenrisikos (Urteil vom 02.03.2024, Az. VI ZR 280/22, vgl. unser Newsletter 06/2024) geäußert. Nun wendet er diese Rechtsprechung im Urteil vom 23.04.2024 auf die Erstattungsfähigkeit von Desinfektionsmaßnahmen an, vgl. BGH, Az. VI ZR 348/21.
Sachverhalt:
Das Fahrzeug der Klägerin wurde bei einem Verkehrsunfall im August 2020 beschädigt. Die Haftung war unstrittig. Die Klägerin holte zur Feststellung der Schadenshöhe ein Sachverständigengutachten ein. Dieses wies als Teil der Reparaturkosten einen Betrag von 136,40 € netto für Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus aus. Der Betrag setzte sich aus Arbeitslohn und Material für die Desinfektion des Fahrzeugs vor und nach der Reparatur zusammen. Die Klägerin ließ ihr Fahrzeug sodann reparieren. Die Werkstatt stellte für Corona-Schutzmaßnahmen insgesamt 157,99 € brutto in Rechnung, aufgeteilt in Einzelbeträge für „Schutzmaßnahmen Covid 19 vor Reparatur“ und „Schutzmaßnahmen Covid 19 nach Reparatur“.
Die Beklagte lehnte eine Zahlung hierfür ab. Das Amtsgericht hat der auf Zahlung von 157,99 € gerichteten Klage in voller Höhe stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hin hat das Landgericht das Urteil abgeändert und die Beklagte nur zur Zahlung von 33,18 € verurteilt.
Entscheidung:
Die Revision hatte keinen Erfolg. Der BGH hat ebenfalls nur Corona-Schutzmaßnahmen in Höhe von 33,18 € für erstattungsfähig gehalten. Begründet wurde dies vom BGH wie folgt:
Die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs ist in erster Linie Sache des Tatrichters und von der Revision lediglich darauf überprüfbar, ob der Tatrichter Rechtsgrundsätze der Schadenbemessung verkannt hat. Maßgeblich ist dabei der Betrag, den ein verständiger, wirtschaftlich denkender Mensch für zweckmäßig und notwendig gehalten hätte. Das Werkstattrisiko trägt der Schädiger. Ersatzfähig im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger sind auch die Rechnungspositionen, die tatsächlich nicht durchgeführte einzelne Reparaturschritte betreffen, sofern dies für den Geschädigten nicht erkennbar war. Denn die Schadensbeseitigung findet in einer fremden, vom Geschädigten nicht kontrollierbaren Einflusssphäre statt.
Allerdings trifft den Geschädigten eine Verpflichtung zu einer gewissen Plausibilitätskontrolle der von der Werkstatt bei Vertragsschluss geforderten bzw. später berechneten Preise. Verlangt die Werkstatt bei Vertragsschluss Preise, die für den Geschädigten erkennbar deutlich überhöht sind, kann sich die Beauftragung dieser Werkstatt als nicht erforderlich im Sinne des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB erweisen (Auswahlverschulden). Das hat dann zur Folge, dass sich der Geschädigte nicht auf das Werkstattrisiko berufen kann. Bereits im Urteil zu den Sachverständigenkosten hat der BGH festgehalten, dass der Geschädigte zu einer „gewissen Plausibilitätskontrolle“ der Rechnung verpflichtet ist.
Demnach hätte die Klägerin vorliegend erkennen können, dass die Kosten für Corona-Schutzmaßnahmen deutlich überhöht seien. Denn jedermann hat während der Pandemie ein Erfahrungswissen gesammelt, und die Klägerin konnte auch als Laiin erkennen, dass die in Rechnung gestellten Positionen evident zu hoch angesetzt waren. Außerhalb der Kfz-Werkstätten seien sehr viel niedrigere Beträge berechnet worden. Deshalb durfte die Geschädigte auch nicht auf die Prognose des Schadengutachters vertrauen.
Das Berufungsgericht hat auch ohne Rechtsfehler die tatsächlich erforderlichen Kosten gemäß § 287 ZPO mit 33,18 € bemessen. Das Desinfizieren von Kontaktflächen innerhalb und außerhalb des Fahrzeugs setzt keine besonderen Fähigkeiten voraus und kann von Aushilfskräften erledigt werden. Daher kann der niedrigste Arbeitslohn angesetzt werden. Den Zeitaufwand für eine Fahrzeugdesinfektion hat das Berufungsgericht mit jeweils fünf Minuten und damit einem Arbeitswert (1 AW) bei Hereinnahme und Rückgabe des Fahrzeugs bemessen. Für den Materialeinsatz pro Desinfektionsvorgang hat es 1,16 € brutto für Desinfektionsmittel, Reinigungstücher, Einmalhandschuhe und Schutzmasken angesetzt.
Zum Schluss hat der BGH noch festgestellt, dass die Durchführung von Corona Schutzmaßnahmen im Zuge einer Reparatur eines Fahrzeugs grundsätzlich unfallkausal und erforderlich ist. Einem Werkstattbetreiber als Unternehmer steht ein gewisser Entscheidungsspielraum hinsichtlich seines individuellen Hygienekonzepts während der Corona-Pandemie zu. Dabei geht es nicht nur um den Schutz seiner Mitarbeiter vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus, sondern auch um den Schutz des Auftraggebers. Auch darf die Werkstatt die Corona-Pauschale gesondert berechnen. Die betriebswirtschaftliche Entscheidung, ob die für das Hygienekonzept in der Corona-Pandemie anfallenden Kosten gesondert ausgewiesen oder als interne Kosten in die Kalkulation des Reparaturkosten “eingepreist” werden, steht grundsätzlich dem Werkstattinhaber als Unternehmer zu. Angesichts der nur vorübergehenden Natur der Corona-Pandemie mag es kostentransparenter sein, den Preis für Corona-Schutzmaßnahmen für die Dauer des Anfallens gesondert auszuweisen.
Für das Autohaus/Kfz-Werkstatt heißt das Folgendes:
Der Geschädigte bekommt nur Rechnungspositionen im Rahmen des Schadensersatzanspruchs erstattet, die laienerkennbar nicht überhöht sind. Das Autohaus/Kfz-Werkstatt sollte daher bei einzelnen Rechnungspositionen die Preise nicht künstlich in die Höhe treiben, nur weil eine Haftpflichtversicherung auf der Seite steht. Das kann nach hinten losgehen, wenn Gerichte die Höhe dann – wie hier geschehen – überprüfen und nach unten korrigieren.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Sachverständigen gilt dasselbe wie für das Autohaus.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Der Geschädigte kann sich nicht auf das Werkstattrisiko berufen, wenn ihm bei der Auswahl der Kfz-Werkstatt ein Verschulden vorgeworfen werden kann (sog. Auswahlverschulden). Ein solches ist beispielsweise gegeben, wenn der Geschädigte eine Werkstatt beauftragt, die, für ihn erkennbar, überhöhte Preise abrechnet. Der Geschädigte muss nämlich überprüfen, ob die von der Werkstatt berechneten Preise plausibel sind. Kann er eine Erhöhung der Preise erkennen und beauftragt er die Werkstatt trotzdem, ist die Beauftragung nicht erforderlich und er bekommt die zu hoch berechneten Reparaturkosten nicht von der gegnerischen Haftpflichtversicherung erstattet.