Nachdem sich der der Bundesgerichtshof (BGH) im Januar in fünf Urteilen detailliert über die Ersatzfähigkeit von Kfz-Reparaturkosten im Falle des Werkstattrisikos geäußert hat (Urteile vom 16.01.2024, Az. VI ZR 38/22, VI ZR 239/22, VI ZR 253/22, VI ZR 266/22 und VI ZR 51/23, vgl. unser Newsletter 02/2024), hat er diese Grundsätze nun auf die Ersatzfähigkeit von Sachverständigenkosten übertragen. Mit Urteil vom 12.03.2024, Az. VI ZR 280/22, hat der BGH seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben und einen neuen Begriff geprägt: das Sachverständigenrisiko.
Sachverhalt:
Bei einem Verkehrsunfall, für den die Haftpflichtversicherung des Unfallgegners haftet, wurde ein Pkw beschädigt. Dessen Halter beauftragte ein Sachverständigenbüro mit der Begutachtung des verunfallten Pkw und trat seine diesbezüglichen Schadensersatzansprüche gegen die Versicherung an das Sachverständigenbüro ab. Die Versicherung erstattete die Kosten für das Gutachten mit Ausnahme der in Rechnung gestellten Position “Zuschlag Schutzmaßnahme Corona” in Höhe von 20 Euro. Diese Kosten waren aus Sicht des Sachverständigenbüros notwendig, da dieses Desinfektionsmittel, Einwegreinigungstücher und Einmalhandschuhe angeschafft hat. Mit der Klage aus abgetretenem Recht verfolgt das Sachverständigenbüro die Zahlung der 20 € nebst Zinsen.
Entscheidung:
Das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, dass eine “Corona-Pauschale” vom Sachverständigen nicht gesondert in Rechnung gestellt werden dürfe. Die Revision des Sachverständigenbüros hatte Erfolg. Das Urteil des Berufungsgerichts wurde aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Begründet wurde dies vom BGH wie folgt:
Klagt der Geschädigte selbst, sind auf gegebenenfalls überhöhte Kostenansätze eines Kfz-Sachverständigen die Grundsätze zum Werkstattrisiko (vgl. BGH, Urteil vom 16. 01.2024, Az. VI ZR 253/22) für überhöhte Kostenansätze einer Werkstatt übertragbar. Den Erkenntnis- und Einwirkungsmöglichkeiten des Geschädigten sind nicht nur im werkvertraglichen Verhältnis mit der Reparaturwerkstatt, sondern auch im werkvertraglichen Verhältnis mit dem Kfz-Sachverständigen Grenzen gesetzt, sobald er den Gutachtensauftrag erteilt und das Fahrzeug in die Hände des Gutachters gegeben hat.
Ersatzfähig im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger sind demnach auch diejenigen Rechnungspositionen, die ohne Schuld des Geschädigten etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise unangemessen, mithin nicht zur Herstellung erforderlich im Sinne des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB sind.
Bei einem Kfz-Sachverständigen, der sein Grundhonorar nicht nach Stunden, sondern nach Schadenshöhe berechnet, kommt ein für den Geschädigten nicht erkennbar überhöhter Ansatz beispielsweise auch dann in Betracht, wenn der Gutachter den Schaden unzutreffend zu hoch einschätzt. Diesbezügliche Mehraufwendungen sind dann ebenfalls ersatzfähig, ebenso Rechnungspositionen, die sich auf – für den Geschädigten nicht erkennbar – tatsächlich nicht durchgeführte Maßnahmen im Zusammenhang mit der Begutachtung beziehen.
Allerdings kann der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs die Abtretung gegebenenfalls bestehender Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen verlangen.
Die Anwendung der genannten Grundsätze zum Werkstattrisiko auf die Sachverständigenkosten setzt nicht voraus, dass der Geschädigte die Rechnung des Sachverständigen bereits bezahlt hat. Soweit der Geschädigte die Rechnung nicht beglichen hat, kann er – will er das Sachverständigenrisiko nicht selbst tragen – die Zahlung der Sachverständigenkosten nicht an sich, sondern nur an den Sachverständigen verlangen, Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen.
Hat sich der Sachverständige die Schadensersatzforderung des Geschädigten in Höhe der Honorarforderung abtreten lassen, kann er sich nicht auf das Sachverständigenrisiko berufen. Die diesbezüglich im Urteil vom 16.01.2024, Az. VI ZR 239/22, entwickelten Grundsätze gelten entsprechend für den Sachverständigen.
Da vorliegend das Sachverständigenbüro aus abgetretenem Recht vorgeht, kann es sich auf das Sachverständigenrisiko nicht berufen. Es hat vielmehr darzulegen und ggf. zu beweisen, dass die mit der Pauschale abgerechneten Corona-Schutzmaßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und objektiv erforderlich waren und dass die Pauschale auch ihrer Höhe nach nicht über das Erforderliche hinausgeht.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass einem Sachverständigen als Unternehmer gewisse Entscheidungsspielräume hinsichtlich seines individuellen Hygienekonzepts während der Corona-Pandemie zuzugestehen sind. Dabei geht es nicht nur um den Schutz des Sachverständigen und seiner Mitarbeiter vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus, sondern auch um den Schutz, den der Auftraggeber während der Pandemie erwarten darf. Es begegnet auch keinen grundsätzlichen Bedenken, dass die Klägerin die Corona-Pauschale gesondert berechnet hat. Einem Kfz-Sachverständigen steht es frei, neben einem Grundhonorar für seine eigentliche Sachverständigentätigkeit Nebenkosten, auch in Form von Pauschalen, für tatsächlich angefallene Aufwendungen abzurechnen. Die betriebswirtschaftliche Entscheidung, ob die für das Hygienekonzept in der Corona-Pandemie anfallenden Kosten gesondert ausgewiesen oder als interne Kosten in die Kalkulation des Grundhonorars “eingepreist” werden, steht dabei grundsätzlich dem Sachverständigen als Unternehmer zu; es darf nur nicht beides kumulativ erfolgen.
Für das Autohaus/Kfz-Werkstatt heißt das Folgendes:
Für das Autohaus treten hier keine Besonderheiten auf. Bzgl. der neuen Rechtsprechung zum Werkstattrisiko verweisen wir auf unseren Newsletter 02/2024.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Der Sachverständige bekommt bei richtiger Anwendung der neuen BGH-Rechtsprechung in einem ersten Schritt sein volles Gutachtenhonorar erstattet, und zwar direkt von der gegnerischen Haftpflichtversicherung. Allerdings muss der Geschädigte eventuelle Rückforderungsansprüche gegen den Sachverständigen an die Versicherung abtreten, so dass diese aufgrund der Abtretung eine eventuell zu hohe Zahlung vom Sachverständigen zurückfordern kann.
Um davor geschützt zu sein, sollte der Sachverständige mit dem Geschädigten eine Honorarvereinbarung abschließen. In dieser sollte vereinbart werden, dass der Sachverständige sein Honorar auf Grundlage der Schadenshöhe berechnet. Am besten fügt der Sachverständige eine Tabelle bei, aus der das jeweilige Honorar entsprechend der Schadenshöhe sowie die Nebenkostenpositionen ersichtlich sind. Diese Preisvereinbarung darf allerdings das Übliche nicht nennenswert überschreiten. Ist sie an die BVSK-Honorarbefragung angelehnt, dürfte dies dem Üblichen entsprechen. Mit der Vereinbarung, nach Schadenshöhe abzurechnen, dürfte fürs erste auch das Argument der Versicherungen, der Sachverständige müsse nach Zeithonorar abrechnen, entkräftet sein.
Klagt der Sachverständige aus abgetretenem Recht, kann er sich nicht auf das Sachverständigenrisiko berufen und muss die Erforderlichkeit und Üblichkeit der abgerechneten Positionen nachweisen.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Für den Geschädigten, der selbst auf Erstattung des Sachverständigenhonorars klagt, vereinfacht sich vieles. Denn er darf darauf vertrauen, dass der Sachverständige korrekt abrechnet und ist nur bei einer für einen Laien erkennbaren, deutlich überhöhten Gutachterrechnung nicht geschützt. Beispiele hierfür sind: Es besteht eine Preisvereinbarung und die Rechnung des Sachverständigen übersteigt diese. Der Sachverständigerechnet Fahrtkosten ab, obwohl diese für den Geschädigten erkennbar nicht entstanden sind, weil der Sachverständige bereits wegen eines anderen Termins vor Ort in der Werkstatt war.
Will der Geschädigte sich auf das Sachverständigenrisiko berufen, muss er, sofern er die Rechnung noch nicht bezahlt hat, Zahlung an den Sachverständigen verlangen. Zudem muss er eventuelle werkvertragliche Rückforderungsansprüche gegen den Gutachter an die Haftpflichtversicherung abtreten, so dass diese den Streit über die Höhe der Gutachterkosten im Regressprozess direkt mit dem Sachverständigen klären kann.
Da zu erwarten ist, dass Versicherungen weiterhin Kürzungen beim Sachverständigenhonorar vornehmen, sollte sich der Geschädigte an einen Fachanwalt für Verkehrsrecht wenden.