Die Welt wird digitaler. Das hat auch Einfluss auf die Unfallregulierung, wie folgende Beispiele zeigen. Ein Geschädigter erhält nach einem unverschuldeten Verkehrsunfall einen Anruf der gegnerischen Haftpflichtversicherung. Der Sachbearbeiter der Versicherung bietet dem Geschädigten an, am Abend eine Videobesichtigung durch den angestellten Sachverständigen über Skype vornehmen lassen. In einem anderen Fall wird dem Geschädigten eine Schadensfeststellung über WhatsApp angeboten. Der Geschädigte soll an die Handynummer des Sachverständigen per WhatsApp den aktuellen Kilometerstand, den Fahrzeugschein sowie Fotos vom Schaden übersenden.
Die Geschädigten lassen sich zunächst auf diese Art der Schadenfeststellung ein. Dann kommen ihnen Zweifel und sie fragen bei einem ihnen bekannten Sachverständigen nach, ob das so üblich und ob eine Gutachtenserstellung durch einen „eigenen“ Sachverständigen noch möglich sei. Denn eventuell ist der Schaden ja höher, wenn der Geschädigte selbst einen unabhängigen Gutachter beauftragt.
Es stellen sich nun folgende Fragen:
- Hat der Geschädigte trotz bereits erfolgter Begutachtung durch die gegnerische Haftpflichtversicherung das Recht, einen eigenen Sachverständigen einzuschalten?
- Werden ihm die Kosten erstattet?
- Und falls der eigene Sachverständige den Schaden höher feststellt: welche Schadenshöhe ist zu erstatten?
Regelfall:
Ja, der Geschädigte hat das Recht auf einen eigenen Sachverständigen. Auch wenn die Versicherung dem Geschädigten einen in ihrem Lager stehenden Sachverständigen aufdrängt, hindert das die Einschaltung eines neutralen Sachverständigen nicht (vgl. AG Bochum, Urteil vom 15.12.2005, Az. 44 C 365/05; AG Rheinbach, Urteil vom 10.12.2018, Az. 26 C 183/17).
Eine Ausnahme gibt es aber:
Wenn sich der Geschädigte mit der Entsendung des Sachverständigen durch die gegnerische Haftpflichtversicherung ausdrücklich einverstanden erklärt hat, dieser also die Auswahl des Sachverständigen bewusst überlassen hat, ist das als eindeutiger Verzicht auf ein eigenes Gutachten zu deuten (vgl. AG Wuppertal, Urteil vom 01.06.2015, Az. 32 C 8/14). Dieses Einverständnis und damit den Verzicht auf einen eigenen Sachverständigen muss aber die Haftpflichtversicherung beweisen, so das Amtsgericht Ludwigslust mit Urteil vom 07.12.2017, Az. 41 C 110/17.
Doch:
Selbst wenn ein Verzicht vorläge, hat der Geschädigte das Recht, ein eigenes Gutachten einzuholen, wenn das ursprünglich im Einverständnis mit dem Geschädigten von der Versicherung beauftragte Haftpflichtgutachten offensichtlich falsch und oberflächlich gemacht ist (vgl. AG Neumarkt in der Oberpfalz, Urteil vom 17.06.2009, Az. 1 C 169/09). Genauso hat es das Amtsgericht München mit Urteil vom 24.07.2017, Az. 335 C 7525/17, gesehen: Hier dauerte die Begutachtung durch den Sachverständigen des Versicherers nur etwa 15 Minuten; es wurden keine Lichtbilder angefertigt und das Fahrzeug nicht von unten begutachtet. Ebenfalls fehlte eine Stellungnahme zur Wertminderung.
Erfolgt also durch die gegnerische Versicherung die Begutachtung über Skype oder WhatsApp, hat der Geschädigte das Recht, einen eigenen Sachverständigen einzuschalten, sofern er nicht ausdrücklich mit der Begutachtung durch die Versicherung einverstanden war. Wenn er einverstanden gewesen wäre, stellt sich im Anschluss die Frage, ob eine Gutachtenserstellung, ohne das beschädigte Fahrzeug „live“ gesehen zu haben, möglich ist oder ob so ein Gutachten „falsch und oberflächlich“ gemacht ist.
Inwieweit Gutachten „von der Ferne“ per WhatsApp oder Skype möglich sind, ist sicherlich vom Schadensbild abhängig. Solange es nur um äußerliche Kratzer an einzelnen Karosserieteilen geht, wird ein Gutachten anhand Fotos eher möglich sein. Sobald einzelne Karosserieteile eingedrückt sind und verdeckte Schäden zu erwarten oder zu vermuten sind, wird eine Begutachtung vor Ort notwendig sein.
Sofern der Geschädigte nach den oben beschrieben Grundsätzen das Recht hat, einen eigenen Sachverständigen einzuschalten, müssen ihm auch die Kosten hierfür erstattet werden.
Welche Schadenshöhe dann bei zwei divergierenden Gutachten die „richtige“ ist, ist nicht immer einfach zu beurteilen. Zum einen können sich Unterschiede im technischen Bereich ergeben, zum anderen im rechtlichen Bereich bei der Kalkulation der Höhe der Stundenverrechnungssätze, den Teilepreisen und den Verbringungskosten.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Kommt ein Kunde mit einem Gutachten, das von der gegnerischen Versicherung in Auftrag gegeben worden ist, ins Autohaus, sollte das Autohaus den Kunden darüber aufklären, dass er grundsätzlich das Recht auf ein eigenes Gutachten hat.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Geschädigten kann der Sachverständige in einem Haftpflichtfall grundsätzlich immer ein Gutachten erstellen; die Kosten des Sachverständigen sind Teil des Schadensersatzes, den der Geschädigte bei der Versicherung geltend macht. Es gibt nur eine Ausnahme: Der Geschädigte war ausdrücklich einverstanden damit, dass die gegnerische Versicherung einen Gutachter beauftragt, und es gibt keinerlei begründete Zweifel an der Richtigkeit dieses Gutachtens.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Der Geschädigte sollte sich von der gegnerischen Versicherung keinen Bären (Gutachter) aufbinden lassen. Und selbst wenn die gegnerische Versicherung einen Gutachter geschickt hat, hat der Geschädigte – sofern er nicht ausdrücklich damit einverstanden war – immer noch das Recht, einen eigenen Gutachter zu beauftragen.