In unserem letzten Newsletter 07/2022 hatten wir uns angeschaut, welche speziellen Regeln auf Parklätzen gelten. In diesem Newsletter wollen wir nun eine bestimmte Unfallkonstellation beleuchten, die auf Parkplätzen immer wieder vorkommt. Wer haftet in diesem Fall?
Zwei Fahrzeuge parken gleichzeitig aus gegenüber liegenden Parkbuchten rückwärts aus
Eine klassische Unfallsituation liegt vor, wenn zwei Fahrzeugführer jeweils rückwärts aus in etwa gegenüberliegenden Parktaschen ausparken und in der Parkgasse kollidieren. Streit entsteht meist darüber, ob es einer von beiden geschafft hat, vor der Kollision noch rechtzeitig zum Stehen zu kommen. Das kann entscheidend sein, denn:
Mit dieser Fallgestaltung hatte sich der Bundesgerichtshof (BGH) in drei Urteilen auseinandergesetzt (BGH, Urteil vom 15.12.2015, Az. VI ZR 6/15, Urteil vom 26.1.2016, Az. VI ZR 179/15, Urteil vom 11.10.2016, Az. VI ZR 66/16). Die wesentlichen Feststellungen des BGH lauten:
1. Die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO (wer ein Fahrzeug führt, muss sich beim Rückwärtsfahren so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist) ist auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht unmittelbar anwendbar. Mittelbare Bedeutung erlangt sie aber über § 1 Abs. 2 StVO (wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein anderer gefährdet wird).
2. Derjenige, der auf einem Parkplatz rückwärts fährt, muss sich so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann.
3. Kollidiert der Rückwärtsfahrende mit einem anderen Fahrzeug, so können zugunsten desjenigen, der sich auf ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden beruft, die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Steht fest, dass der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt nicht stand, spricht ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende seiner Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat.
4. Demjenigen, der sein Fahrzeug rechtzeitig zum Stehen gebracht hat, ist kein Verstoß gegen § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 5 StVO vorzuwerfen. Es kommt es nicht darauf an, wie lange das Fahrzeug nach der Rückwärtsfahrt bereits gestanden hat. Denn derjenige, der sein Fahrzeug zum Stehen gebracht hat, ist der auf Parkplätzen geltenden Verkehrserwartung, sein Fahrzeug jederzeit abbremsen zu können, nachgekommen.
Nichtsdestotrotz kann auf Seiten desjenigen, der zum Stehen gekommen ist, aufgrund des kurz vorher erfolgten Rückwärtsfahrens die Betriebsgefahr mit 20 bzw. 25 % angesetzt werden.
Die alles entscheidende Frage in solchen Fällen ist daher, ob ein Fahrzeug kurz vor der Kollision schon stand. Diese Frage wird im Gerichtsverfahren entweder durch Zeugenaussagen oder – falls vorhanden – Videoaufnahmen geklärt oder durch ein zeit- und kostenintensives unfallanalytisches Sachverständigengutachten. Kann diese Frage nicht mit ja beantwortet werden, wird es zu einer Haftungsverteilung von 50 zu 50 % kommen. Kann ein Beteiligter nachweisen, dass er zum Stillstand gekommen ist, trifft ihn kein (Mit-)Verschulden. Es kann aber die Betriebsgefahr mit 20 oder 25 % (je nach zuständigem Gericht) angesetzt werden.
Die Betriebsgefahr besteht verschuldensunabhängig für die Gefahren, die beim Betrieb von einem Kraftfahrzeug ausgehen. Sie ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird. Die Betriebsgefahr ist nicht zu berücksichtigen, wenn der Unfall für den Fahrer unvermeidbar war. Der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalles geltend machen will, muss sich wie ein „Idealfahrer“ verhalten haben.
Die Rechtsprechung zur Haftung bei Parkplatzunfällen ist umfangreich, nicht immer einheitlich und letztendlich ist die Bildung der Quote eine Sache des Einzelfalls.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Das Autohaus sollte wissen, dass bei Parkplatzunfällen fast immer mit einer Quote zu rechnen ist. Es sollte daher vor Beginn der Reparatur auch abgeklärt werden, ob der Kunde eine Vollkaskoversicherung hat, damit der restliche Schaden ggf. über das sog. Quotenvorrecht (vgl. unser Newsletter 26/2020) abgerechnet werden kann.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Sachverständigen gilt dasselbe wie für das Autohaus.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Was für den Geschädigten manchmal ganz eindeutig ist und einfach aussieht, ist in der juristischen Praxis oftmals kompliziert. In einem ersten Schritt sind die Verursachungsbeiträge beider Parteien beim Unfall gesondert zu betrachten. In einem zweiten Schritt ist dann je nach Verursachung eine Haftungsquote zu bilden. Die Betriebsgefahr ist ebenfalls noch zu berücksichtigen. Die Bildung von Haftungsquoten ist daher Sache eines auf das Verkehrsrecht spezialisierten Rechtsanwalts, an den sich der Geschädigte nach einem Parkplatzunfall wenden sollte.