Bei einem unverschuldeten Unfall darf der Geschädigte auf der Grundlage der im Schadengutachten festgestellten Reparaturkosten seinen Schaden auch fiktiv abrechnen. Das heißt, er lässt den Unfallschaden nicht (oder nur teilweise) reparieren und macht bei der gegnerischen Versicherung die Reparaturkosten ohne Umsatzsteuer/Mehrwertsteuer geltend. Bei der fiktiven Abrechnung verweist die gegnerische Haftpflichtversicherung den geschädigten oft auf eine Referenzwerkstatt, die geringere Stundensätze und keine UPE-Zuschläge (Preisaufschläge auf die unverbindlich empfohlenen Preise für Ersatzteile) und Verbringungskosten berechnet. Das OLG München hat mit Urteil vom 21.09.2022, Az. 10 U 5397/21e, zur Wirksamkeit eines solchen Werkstattverweises Stellung genommen. Die Grundsätze zum Werkstattverweis finden Sie auch in unserem Newsletter 24/2020.
Die Aussagen des OLG München
Unzumutbar ist ein Verweis schon dann, wenn das Fahrzeug des Geschädigten nicht älter als drei Jahre ist oder bisher regelmäßig in einer Markenwerkstatt gewartet und repariert wurde (vgl. BGH, „Audi-Quattro-Urteil“ vom 22.06.2010, Az. IV ZR 302/08). Ansonsten ist Folgendes zu prüfen:
- Entfernung der Referenzwerkstatt vom Wohnort des Geschädigten
Damit ein Verweis auf die Referenzwerkstatt wirksam ist, muss diese für den Geschädigten mühelos erreichbar sein. Dies ist nur dann gegeben, wenn die benannte Referenzwerkstatt auf öffentlich zugänglichen Straßen nicht mehr als 20 km vom Wohnort des Geschädigten entfernt ist.
Selbst wenn die Referenzwerkstatt nicht mehr als 20 km entfernt ist, ist diese nicht mühelos erreichbar, wenn sie beispielsweise mit öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht (Zeitaufwand von über 1 Stunde) oder gar nicht erreichbar ist oder persönliche Gebrechen beim Geschädigten vorliegen, die das Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht ermöglichen.
In so einem Fall kann der Schädiger dem Geschädigten aber wiederum einen kostenlosen Hol- und Bringservice anbieten oder dem Geschädigten in einem Bereich von bis zu 10 km einen Fahrtkostenzuschuss von 50 Euro, im Bereich von 10 bis 20 km einen von 100 Euro zubilligen. Damit wäre die mühelose Erreichbarkeit wieder gegeben.
- Keine Verweisung auf freie Werkstatt bei fehlender Qualifikation
Die Reparatur in der freien Werkstatt muss in technischer Hinsicht gleichwertig sein, also von Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entsprechen. Hierfür sind vor allem folgende Fragen relevant: Handelt es sich um eine Meisterwerkstatt? Ist diese zertifiziert? Finden dort Originalersatzteile Verwendung? Über welche Erfahrung verfügt man bei der Reparatur von Unfallfahrzeugen? (vgl. auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 27.03.2012, Az. I-1 U 139/11).
Das OLG München hatte zur Frage der technischen Gleichwertigkeit einen gerichtlichen Sachverständigen bestellt, der eine Betriebsbesichtigung bei der Referenzwerkstatt durchgeführt hat. Im Rahmen dieser hat der Sachverständige die Werkstattausrüstung, Mitarbeiter und die Reparaturdurchführung im Vergleich zu markengebundenen Werkstätten geprüft, verschiedene reparierte Fahrzeuge untersucht und in der Reparatur befindliche Fahrzeuge besichtigt.
Dabei ist zu unterscheiden, ob die Werkstatt ein Kfz-Meister-Fachbetrieb ist oder nur ein von der Dekra zertifizierter Karosserie- und Lackierfachbetrieb. Erstere können sicherheitsrelevante Reparaturen vornehmen, während zweitere nur Arbeiten an der Karosserie, einschließlich Lackierarbeiten durchführen können. Ob eine Referenzwerkstatt ein für die Behebung des konkreten Schadens qualifizierter Betrieb ist, kann mittels den in der Handwerksrolle niedergelegten Fachbereichen bestimmt werden.
Die Referenzwerkstatt im vom OLG München zu entscheidenden Fall war zwar kein Kfz-Meister-Fachbetrieb, jedoch ein zertifizierter Karosserie- und Lackierfachbetrieb. Da bei der konkreten Unfallreparatur keine Reparaturen im sicherheitsrelevanten Bereich, sondern nur Lackierarbeiten durchzuführen waren, war die Referenzwerkstatt vorliegend geeignet. Der gerichtlich bestellte Gutachter hatte zusammenfassend festgehalten: „Die dort durchgeführten Reparaturen an Karosserie und Technik sind auf hohem Niveau vergleichbar einer Markenwerkstatt“. Der von der Werkstatt verwandte Stundenverrechnungssatz war zudem frei zugänglich und beruhte nicht auf einer Sondervereinbarung mit der Versicherung. Es wurden daher 123 Euro netto pro Arbeitsstunde für Karosserie- und Mechanikerarbeiten und 124 Euro pro Arbeitsstunde für Lackierarbeiten angesetzt.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Auch wenn das Autohaus bei einer fiktiven Abrechnung „nichts verdient“, kann es seinen Kunden bei Kenntnis der oben dargestellten Rechtsprechung bei einer fiktiven Abrechnung entsprechend hinweisen und so dem Kunden den bestmöglichen Service bieten.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Ausgangspunkt für die Klärung der Frage, ob die jeweilige Referenzwerkstätte zur Behebung des konkreten Schadens qualifiziert ist, war beim OLG München der anhand des Schadengutachtens dargelegte Reparaturumfang im konkreten Einzelfall. Der Sachverständige sollte daher bereits im Schadengutachten klar hervorheben, ob Reparaturen auch in sicherheitsrelevanten Bereichen durchzuführen sind.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Ist das Fahrzeug des Geschädigten älter als drei Jahre und nicht scheckheftgepflegt, sollte ein Verweis der gegnerischen Versicherung auf eine günstigere Referenzwerkstatt immer auf deren Wirksamkeit geprüft werden. Der Qualitätsstandard, die Entfernung und eventuelle Sonderpreiskonditionen durch die Versicherung spielen dabei eine Rolle.