

Bei einem unverschuldeten Unfall darf der Geschädigte auf der Grundlage der im Schadengutachten festgestellten Reparaturkosten seinen Schaden auch fiktiv abrechnen. Das heißt, er lässt den Unfallschaden nicht (oder nur teilweise) reparieren und verlangt von der gegnerischen Versicherung die Reparaturkosten ohne Umsatzsteuer/Mehrwertsteuer ersetzt. Bei der fiktiven Abtrechnung nehmen die gegnerischen Haftpflichtversicherung gerne Kürzungen vor, insbesondere verweisen sie den Geschädigten auf eine Referenzwerkstatt, die geringere Stundensätze und keine UPE-Zuschläge (Preisaufschläge auf die unverbindlich empfohlenen Preise für Ersatzteile) und Verbringungskosten berechnet.
Die Porsche-, VW-, BMW-, Mercedes-Urteile des BGH
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs („Porsche-Urteil“ vom 29.04.2003, Az. VI ZR 398/02, „VW-Urteil“ vom 20.10.2009, Az. VI ZR 53/09, „BMW-Urteil“ vom 23.02.2010, Az. VI ZR 91/09, „Mercedes-Urteil“ vom 22.06.2010, Az. VI ZR 337/09) gilt:
- Grundsatz:
Der Geschädigte kann die Stundenverrechnungssätze seiner Markenwerkstatt am Ort verlangen. - Ausnahme:
Der Versicherer kann auf eine andere, auch markenfremde oder -freie Werkstatt verweisen. - Weitere Ausnahme:
Der Verweis ist für den Geschädigten unzumutbar, wenn das Fahrzeug jünger als drei Jahre ist oder – bei einem Alter über drei Jahre – scheckheftgepflegt ist (alle Services und Reparaturen in einer Markenwerkstatt).
Wirksamer Verweis?
Ist das Fahrzeug des Geschädigten älter als drei Jahre und nicht scheckheftgepflegt, müssen für einen wirksamen Verweis allerdings folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
- Die Reparatur in der freien Werkstatt muss dem Qualitätsstandard einer Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entsprechen. Der BGH hat dies bei einem zertifizierten Meisterbetrieb unter TÜV/DEKRA-Qualitätskontrolle, der Originalteile verwendet, bejaht (BGH, Urteil vom 13.07.2010, Az. VI 259/09).
- Die Werkstatt muss für den Geschädigten ohne Weiteres zugänglich sein. Nach dem BGH ist eine Werkstatt in 21 km Entfernung zum Wohnort des Geschädigten ohne Weiteres zugänglich ist (BGH, Urteil vom 13.07.2010, Az. VI ZR 259/09).
- Die Reparatur darf nicht nur aufgrund von Sonderkonditionen für die Haftpflichtversicherung günstiger sein. Die „freie Fachwerkstatt“ muss für die Reparaturen am Fahrzeug des Geschädigten ihre (markt-)üblichen, d.h. allen Kunden zugänglichen Preise, zugrunde legen (BGH, Urteil vom 28.04.2015, Az. VI ZR 267/14).
Zu den zwei ersten Punkten sind erst kürzlich einige instanzgerichtliche Urteile erschienen:
- Keine Verweisung auf freie Werkstatt bei fehlender Qualifikation
In einem Verfahren vor dem AG Gummersbach (Urteil vom 18.03.2020, Az. 15 C 318/18) hatte ein gerichtlich bestellter Sachverständiger die von der gegnerischen Versicherung benannte Werkstatt besichtigt und den Geschäftsführer u.a. zu Schulungsnachweisen befragt hat. Demnach hatte keiner der Mitarbeiter der Werkstatt eine modellbezogene Schulung für die Marke Audi – das Fahrzeug des Klägers war ein Audi – erhalten. Diese Schulung wäre aber nach den Ausführungen des Sachverständigen üblicher Standard gewesen, weil sich technologiebedingt Besonderheiten von Fahrzeugen der Marke Audi ergeben, für die eine allgemeine Qualifikation in den Bereichen Karosseriebau und Lackierung nicht genügt. Mithin entsprach die Reparatur in der freien Werkstatt nicht dem Qualitätsstandard einer Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt, so dass der Verweis nicht wirksam war.
- Zu weite Entfernung der Referenzwerkstatt vom Wohnort des Geschädigten
Grundsätzlich ist die Frage, wie weit die Referenzwerkstatt vom Wohnort des Geschädigten entfernt sein darf, anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls und nicht mithilfe einer starren Kilometer-Grenze zu beurteilen. So hat das OLG Düsseldorf (Urteil vom 17.12.19, Az. I-1 U 84/19) eine Entfernung von knapp 38 km als nicht mühelos und ohne weiteres erreichbar gesehen. Hinzu kam, dass die im Gutachten erwähnte Markenwerkstatt nur 6 km (= 9 Autominuten) vom Wohnort des Klägers entfernt lag. Demgegenüber hat die Fahrzeit zur Referenzwerkstatt nach Köln ca. 30 Minuten betragen, und das auch nur bei (selten) freier Strecke.
Das AG München setzt noch kürzere Strecken an. Bereits Entfernungen der Referenzwerkstatt zum Wohnort des Klägers von
- 17,8 km mit Fahrt durch Stadtgebiet München (AG München, Urteil vom 25.02.19, Az. 336 C 19583/18)
- 20 km bei einer Fahrzeit zwischen 26 und 40 Minuten, wobei keine sinnvolle öffentliche Verbindung für die Rückfahrt bestand (AG München, Urteil vom 17.05.19, Az. 345 C 4418/19)
- 21,1 km bei einer Fahrt vom Nordwesten (Wohnort Geschädigter) in den Südosten (Werkstatt) Münchens (AG München, Urteil vom 06.06.2019, Az. 334 C 50/19)
sind für den Geschädigten unzumutbar.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Auch wenn das Autohaus bei einer fiktiven Abrechnung „nichts verdient“, kann es seinen Kunden bei Kenntnis der oben dargestellten Rechtsprechung bei einer fiktiven Abrechnung entsprechend hinweisen und so dem Kunden den bestmöglichen Service bieten.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Sachverständigen treten hier keine Besonderheiten auf.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Ist das Fahrzeug des Geschädigten älter als drei Jahre und nicht scheckheftgepflegt, sollte ein Verweis der gegnerischen Versicherung auf eine günstigere Referenzwerkstatt immer auf deren Wirksamkeit geprüft werden. Der Qualitätsstandard, die Entfernung und eventuelle Sonderpreiskonditionen durch die Versicherung spielen dabei eine Rolle.