Das sog. „Werkstattrisiko“ ist vielen Geschädigte eines unverschuldeten Verkehrsunfalls, aber auch den Kfz-Werkstätten und Sachverständigen ein Begriff. Der BGH hat das Werkstattrisiko bereits mit Urteil vom 29.10.1974, Az. VI ZR 42/73, definiert: „Mehrkosten, die ohne eigene Schuld des Geschädigten dadurch anfallen, dass die von ihm beauftragte Werkstatt mit überhöhten Sätzen, unsachgemäß oder unwirtschaftlich gearbeitet hat (Werkstattrisiko), trägt grundsätzlich der Schädiger, es sei denn, den Geschädigten trifft ein Auswahlverschulden.“
Das Amtsgericht (AG) München hat nun in einem Verfahren, in dem wir für einen Unfallgeschädigten restliche Abschleppkosten eingeklagt hatten, den Begriff „Hakenrisiko“ verwendet (AG München, Urteil vom 13.10.2021, Az. 344 C 6507/21). Was hat es damit auf sich?
Sachverhalt:
Das nicht mehr fahrfähige Fahrzeug des Klägers war nach einem Unfall abgeschleppt worden. Die Auswahl des Abschleppunternehmens erfolgte am Unfallort durch die Polizei. Die entstandenen Kosten wurde dem Kläger vom Abschleppunternehmen in Rechnung gestellt. Die gegnerische Haftpflichtversicherung hatte diese Kosten jedoch nicht vollumfänglich erstattet. Mit der Klage machte der Kläger restliche Abschleppkosten, Reinigungskosten für die Ladefläche des Abschleppfahrzeugs und den Stellplatz, Kosten für Ölbindemittel und Standgebühren in Höhe von insgesamt 188,21 Euro geltend. Der Kläger hatte die Rechnung des Abschleppunternehmens noch nicht bezahlt.
Die Beklagte war der Ansicht, dass zum Abschleppen des klägerischen Fahrzeugs ein kleinerer Abschleppwagen mit einem Gewicht von 7,49 Tonnen ausgereicht hätte. Hierfür wäre nach der Preis- und Strukturumfrage des Verbandes der Bergungs- und Abschleppunternehmen e.V. (VBA) ein geringerer Stundensatz angefallen. Zudem sei die Reinigung des Abschleppfahrzeugs, des Standplatzes sowie die Menge des eingesetzten Öl Bindemittels nicht erforderlich gewesen. Ebenso seien Standgebühren von 15,50 Euro pro Tag anstelle von 16,50 Euro angemessen.
Entscheidung:
Das Amtsgericht München hat der Klage vollumfänglich stattgegeben.
Das Amtsgericht hat es nicht für erforderlich gehalten, zur Höhe der Abschleppkosten ein Sachverständigengutachten einzuholen. Auch trifft die Umfrage des VBA, auf die sich die Beklagte bezogen hat, keinerlei Aussagen zur Ortsüblichkeit der Vergütung, so das Gericht. Nach Auffassung des Gerichts kommt es allein darauf an, ob der Geschädigte als Laie die abgerechneten Positionen als erforderlich ansehen durfte. Das ist dann der Fall, solange für den Geschädigten nicht erkennbar ist, dass die Rechnung des Abschleppunternehmens die geschuldete übliche Vergütung deutlich übersteigt oder ihn ein Auswahlverschulden trifft.
Beides war vorliegend nicht der Fall. Die Auswahl des Abschleppunternehmens erfolgte durch die Polizei. Der Kläger durfte daher davon ausgehen, dass die Polizei kein Unternehmen auswählt, dass eine andere als die ortsübliche Vergütung verlangt und war daher schutzwürdig.
Für das sog. „Hakenrisiko“ gelten dieselben Grundsätze wie für das Werkstattrisiko.
Der Geschädigte kann nach § 249 Abs. 2 BGB vom Schädiger den Geldbetrag ersetzt verlangen, der zur Herstellung des beschädigten Fahrzeuges erforderlich ist. Das gilt auch für die Abschlepp(neben)kosten. Der erforderliche Aufwand wird dabei nicht nur durch Art und Ausmaß des Schadens, die örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten für seine Beseitigung, sondern auch von den Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten des Geschädigten mitbestimmt. Insbesondere ist der Geschädigte von Fachleuten, die er zur Instandsetzung bzw. Bergung des Unfallfahrzeuges heranziehen muss, abhängig. In diesem Sinne ist der Schaden subjektbezogen zu bestimmen.
Auch im Fall der Bergung von Kraftfahrzeugen kann der Geschädigte als Laie nicht ermessen, welche Art von Abschleppfahrzeug zur Bergung erforderlich ist und wie und mit welchem Aufwand etwa ausgelaufene Betriebsflüssigkeiten aufzunehmen sind. Dem Geschädigten soll aber bei voller Haftung des Schädigers ein möglichst vollständiger Schadensausgleich zukommen. Die „tatsächlichen“ Abschleppkosten sind deshalb auch dann „erforderlich“, wenn diese ohne Schuld des Geschädigten – etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise – unangemessen sind. Das gilt für Abschlepp- und Reparaturkosten gleichermaßen.
Bei den Abschleppkosten ist wegen der regelmäßig bestehenden Not- und Eilsituation eine noch größere Schutzbedürftigkeit des Geschädigten gegeben. Der Unfallgeschädigte darf darauf vertrauen, dass das Abschleppunternehmen nicht betrügerisch Werkleistungen in Rechnung stellt, da er in der Regel keine Möglichkeit hat, die Vorgänge selbst zu kontrollieren. Vom Geschädigten ist auch nicht zu erwarten, dass er jede Rechnungsposition hinterfragt und sich belegen lässt.
Die Ersatzfähigkeit von unnötigen Mehraufwendungen ist nur ausnahmsweise ausgeschlossen, wenn dem Dritten ein Auswahlverschulden bei der Beauftragung des Abschleppunternehmens oder ein sonstiges äußerst grobes Verschulden zur Last fällt, so dass die Mehraufwendungen dem Schädiger nicht mehr zuzurechnen sind. Das ist vorliegend aber nicht ersichtlich.
Auf die Frage, ob der Geschädigte die Abschlepprechnung vollständig beglichen hat, kommt es nicht an. Das Hakenrisiko greift bereits ab Erteilung des Abschleppauftrages und „In-die-Hände-geben-von-Fachleuten“ und nicht erst ab Bezahlung der Rechnung. Die beklagte Haftpflichtversicherung hat dafür nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung einen Anspruch auf Abtretung etwaiger Ansprüche des Geschädigten gegen des Abschleppunternehmen wegen überhöhter Kosten. Die Versicherung kann dann versuchen, eine eventuelle Überhöhung der Rechnung vom Abschleppunternehmer einzufordern.
Für das Autohaus/Abschleppunternehmen heißt das Folgendes:
Der Unfallgeschädigte bekommt aufgrund des sog. Hakenrisikos die ihm vom Autohaus/Abschleppunternehmen gestellten Rechnung in der Regel komplett erstattet. Eine Überhöhung ist für den Unfallgeschädigten unschädlich.
Wie auch bei den Reparaturkosten erstattet die Haftpflichtversicherung aber meist nur dann die Abschleppkosten komplett, wenn der Geschädigte im Gegenzug seine Rückforderungsansprüche wegen Rechnungsüberhöhung an den Versicherer abtritt. Somit besteht für das Autohaus/Abschleppunternehmen die Gefahr, dass die Haftpflichtversicherung eine Überhöhung im Wege eines Regressprozesses zurückfordert. Der Streit um die Rückforderung zu viel berechneten Lohns ist reines Werkvertragsrecht. Es kommt nur auf die Frage an, ob der Werklohn wirklich überhöht war. Das Autohaus/Abschleppunternehmen sollte daher keine überhöhten in Rechnung stellen.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Sachverständigen treten hier keine Besonderheiten auf.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Sind die Abschleppkosten unfallbedingt erforderlich, stellen sie eine Schadensposition dar, die der Unfallverursacher ersetzen muss. Für den Geschädigten ist es oberstes Gebot, nach einem Unfall die Unfallstelle schnell zu räumen, um Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Oft wird der Abschleppunternehmer von der Polizei gerufen. Zur Marktforschung vor Beauftragung eines Abschleppunternehmens ist der Geschädigte daher nicht verpflichtet. Der Schädiger schuldet in der konkreten Not- und Eilsituation die tatsächlich entstandenen Kosten, auf die Üblichkeit und darauf, ob diese Kosten überhöht sind, kommt es nicht an. Dies wird in der Rechtsprechung mit dem sog. Hakenrisiko begründet, das der Schädiger zu tragen hat. Einen „Haken beim Hakenrisiko“ für den Geschädigten gibt es daher nach der Ansicht des Amtsgerichts München grundsätzlich nicht.