Nach einem unverschuldeten Verkehrsunfall muss der Geschädigte gegenüber der gegnerischen Haftpflichtversicherung seinen Schaden beziffern. Um dies zu können, ist der Geschädigte auf fremde Hilfe angewiesen: entweder holt er ein Sachverständigengutachten oder einen Kosten-voranschlag einer Kfz-Werkstatt ein. Das Gutachtet kostet, der Kostenvoranschlag deutlich weniger und häufig werden die Kosten verrechnet, wenn anschließend ein Reparaturauftrag erteilt wird. Deswegen wollen Haftpflichtversicherungen den Geschädigten gerne auf Kostenvoranschläge verweisen.
Und so stellen sich zwei Fragen:
Was ist dem Geschädigten zu empfehlen – Gutachten oder Kostenvoranschlag?
Und ist ein Gutachten immer möglich oder erst ab einer bestimmten Schadenshöhe?
Vorteile des Gutachtens
Ein Gutachten hat im Vergleich zum Kostenvoranschlag für den Geschädigten Vorteile:
Durch ein Sachverständigengutachten wird zweifelsfrei geklärt, ob ein wirtschaftlicher Totalschaden vorliegt oder das Fahrzeug noch reparaturwürdig ist. Eine eventuelle Wertminderung wird festgestellt und das Gutachten hat beweissichernden Charakter. Das Gutachten wird von einem unabhängig Sachverständigen erstellt, somit sind Interessenkonflikte der später reparierenden Werkstatt ausgeschlossen.
Und was am wichtigsten ist im Hinblick auf die spätere Regulierung und Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs des Geschädigten:
Im Gutachten wird der Schaden des Geschädigten am Kraftfahrzeug festgehalten. Wenn dieser dann der Werkstatt den Auftrag erteilt, die Reparatur gemäß Gutachten durchzuführen, die Werkstatt diesen Auftrag abarbeitet und die Arbeiten in Rechnung stellt, ist der Rechnungsbetrag die Grundlage des Schadensersatzes.
Denn der Unfallgeschädigte darf sowohl auf die Sachkunde des Gutachters vertrauen, als auch darauf, dass die Werkstatt nicht betrügerisch Werkleistungen in Rechnung stellt, die gar nicht erbracht wurden. Die Möglichkeit, das Gutachten aus eigener Kenntnis zu überprüfen oder die Durchführung der Reparaturen zu kontrollieren, hat der Geschädigte nur in besonderen Fällen (vgl. OLG Celle, Hinweisbeschluss vom 15.06.2017, Az. 14 U 37/17).
Auch das LG München I hat mit Urteil vom 30.11.2015, Az. 19 O 14528/12, bestätigt, dass sich der Geschädigte auf die Feststellungen der Fachleute stützen darf: „Denn …. es ist zu berücksichtigen, dass den Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten des Geschädigten Grenzen gesetzt sind, sobald er Begutachtungsauftrag und Reparaturauftrag erteilt und die Angelegenheit in die Hände von Fachleuten gegeben hat.“
Zahlreiche weitere Gerichte folgen der Reparatur gemäß Gutachten Rechtsprechung:
- AG Coburg, Urteil vom 23.01.2018, Az. 12 C 1425/17
- AG Hattingen, Urteil vom 14.11.2017, Az. 6 C 11/17
- AG Köln, Urteil vom 29.03.2016, Az. 36 O 65/15
- AG Neu-Ulm, Urteil vom 17.03.2016, Az. 4 C 1474/15
- AG Neu-Ulm, Urteil vom 07.04.2017, Az. 4 C 265/17
- AG Siegburg, Urteil vom 26.09.2017, Az. 121 C 121/17
- AG Tettnang, Urteil vom 30.06.2016, Az. 8 C 26/16
- OLG Celle, Hinweisbeschluss vom 15.06.2017, Az. 14 U 37/17.
Die Kosten für das Gutachten sind von der gegnerischen Haftpflichtversicherung im Rahmen des § 249 Absatz 2 S. 1 BGB zu erstatten.
Bagatellgrenze
Für die Frage, ab welcher Schadenshöhe der Geschädigte einen Gutachter zur Feststellung des Schadens einschalten darf, ist die sogenannte Bagatellgrenze maßgebend. Die gängige Rechtsprechung zieht diese Grenze zwischen 700 und 1.000 Euro.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich mit der Frage nach dem Recht auf ein Schadengutachten grundlegend in seinem Urteil vom 30.11.2004, Az. VI ZR 365/03, befasst. Hier ging es um einen Unfallschaden in Höhe von etwa 715 Euro brutto:
„Die Kosten eines Sachverständigengutachtens gehören zu den mit dem Schaden unmittelbar verbundenen auszugleichenden Vermögensnachteilen, soweit die Begutachtung zur Geltendmachung des Schadenersatzanspruchs erforderlich und zweckmäßig ist. Für letzteres ist auf die Sicht des Geschädigten zum Zeitpunkt der Beauftragung abzustellen. Demnach kommt es darauf an, ob ein verständig und wirtschaftlich denkender Geschädigter nach seinen Erkenntnissen und Möglichkeiten die Einschaltung eines Sachverständigen für geboten erachten durfte.“
Bei einem Schaden von 715,81 Euro brutto sei die Beauftragung eines Sachverständigen jedenfalls erforderlich, es läge kein Bagatellschaden vor, so der BGH.
Die Amts- und Landgerichte orientieren sich bis heute an diesem Urteil. 750 bis 800 Euro brutto sind daher die Messlatte – mit kleinen Schwankungen nach oben und nach unten.
Kurzgutachten
Sofern der Schaden darunter liegt, gibt es auch die Möglichkeit vom Sachverständigen ein Kurzgutachten erstellen zu lassen. Damit ist ausgeschlossen, dass der Werkstatt Interessenkonflikte bei der Kostenprognose unterstellt werden können. Die Kosten des Kurzgutachtens sollten etwa in der Größenordnung eines Kostenvoranschlags liegen.
Das AG Mainz hat mit Urteil vom 19.03.2009, Az. 83 C 561/08, entschieden, dass der Geschädigte bei einem Schaden in Höhe von brutto 508 Euro durch einen Sachverständigen eine Schadenkalkulation für einen Grundpreis von 50 Euro zuzüglich Kosten für Fotos anfertigen lassen darf.
Für das Autohaus/die Kfz-Werkstatt heißt das Folgendes:
Autohäuser und Kfz-Werkstätten sollten sich bei diesem Thema auskennen und den Unfallgeschädigten beraten, da sie meist der erste Ansprechpartner des Geschädigten sind. Auch bei kleineren Schäden oberhalb der Bagatellgrenze ist aufgrund der „Gutachten gemäß Reparatur“ Rechtsprechung die Einschaltung eines Sachverständigen dringend zu empfehlen. Denn nur durch ein Sachverständigengutachten, das der Geschädigte zur Grundlage seines Reparaturauftrags macht, ist dieser umfassend geschützt.
Bei Schäden unterhalb von 750 bis 800 Euro sollte das Autohaus/die Kfz-Werkstatt dazu raten, ein Kurzgutachten oder einen Kostenvoranschlag erstellen zu lassen.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Ab einem Schaden von ca. 750 bis 800 Euro darf der Sachverständige ein Gutachten erstellen. Darunter kann ein Kurzgutachten erstellt werden; die Kosten hierfür sollten sich im Rahmen dessen bewegen, was ein Kostenvoranschlag kosten würde.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Der Geschädigte sollte vom Autohaus die Höhe des Schadens zunächst grob abschätzen lassen und dann im Abstimmung mit dem Autohaus entscheiden, wie richtigerweise nach den oben aufgeführten Grundsätzen vorgegangen wird.