Die Vorfahrtsregel „rechts vor links“ an einer Kreuzung kennt jeder. Dies bedeutet jedoch nicht, dass immer derjenige, der von rechts kommt, voll obsiegt.
Beispiel:
Mandant A hat Vorfahrt. Ein Fahrzeug, das wartepflichtig ist, nimmt dem von rechts kommenden Mandanten A die Vorfahrt und es kommt zum Unfall. Alles klar, würde man auf den ersten Blick sagen und von einem klassischen Vorfahrtsverstoß ausgehen. Gleichwohl erstattet die gegnerische Haftpflichtversicherung nur 75 % des Schadens und begründet das mit der Verletzung der „halben Vorfahrt“ durch den Mandanten. Ist das rechtens?
Der Grundfall der „halben Vorfahrt“ ist die nicht explizit geregelte Vorfahrt an einer schwer einsehbaren Kreuzung, typischerweise innerorts (vgl. BGH, Urteil v. 21.06.1977, Az. VI ZR 97/76). Es gilt also für alle „rechts vor links“. Für jeden Verkehrsteilnehmer, der sich dieser Kreuzung nähert, stellt sich die Verkehrslage so dar, dass er zwar gegenüber dem von links Kommenden vorfahrtsberechtigt, gegenüber Verkehrsteilnehmern von rechts aber wartepflichtig ist. Um deren Vorfahrt beachten zu können, muss er deshalb, wie es § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO bestimmt, mit mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren und sich darauf einstellen, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, um die ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigten durchfahren zu lassen. Dabei ist es unerheblich, ob von rechts tatsächlich ein Fahrzeug kommt oder nicht.
Nicht anwendbar sind die Grundsätze über die „halbe Vorfahrt“, wenn der bevorrechtigte Autofahrer freie Sicht nach rechts hat. Kann er die Örtlichkeit nach rechts sehr gut einsehen, darf er grundsätzlich ohne Geschwindigkeitsverringerung (natürlich soweit zulässig) weiterfahren.
Ist die Sicht für den halb Vorfahrtsberechtigten tatsächlich nach rechts eingeschränkt (z. B. durch abgestellte Fahrzeuge, Bepflanzungen oder Mauern), muss er seine Geschwindigkeit entsprechend reduzieren. Macht er dies nicht und ist die nicht angepasste Geschwindigkeit ursächlich für den Unfall, haftet er in der Regel – und das ist das Ergebnis der „halben Vorfahrt“ – gegenüber dem an sich Wartepflichtigen mit, und zwar in Höhe von 25 % (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil v. 22.11.1995, Az. 13 U 203/93; LG Saarbrücken, Urteil v. 21.10.2011, Az. 13 S 117/11; AG Hechingen, Urteil v. 13.03.2019, Az. 6 C 233/18). Er verstößt gegen § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO, weil er an einer unübersichtlichen Stelle zu schnell gefahren ist. Diese Vorschrift verfolgt den Zweck, Zusammenstöße an gefährlichen und unübersichtlichen Straßenstellen, wie sie Kreuzungen ohne ausreichende Sicht auf die einmündenden Straßen darstellen, zu verhindern.
Die Beweislast ist in den Fällen der „halben Vorfahrt“ wie folgt:
- Der halb Vorfahrtsberechtigte muss vortragen und beweisen, dass der Unfall für ihn unabwendbar war (§ 17 Abs. 3 StVG). Dazu muss er nachweisen, dass er die für ihn von rechts kommende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen konnte, sodass kein Grund bestanden hat, die Geschwindigkeit herabzusetzen. Ist die Sicht nach rechts eingeschränkt, kann sich der halb Vorfahrtsberechtigte entlasten, wenn er nachweist, dass die Annäherungsgeschwindigkeit so gewählt war, dass er auf von rechts kommende Fahrzeuge rechtzeitig reagieren konnte und diesen das Vorfahrtsrecht hätte gewähren können. Die Betriebsgefahr kann auch dann völlig zurücktreten, wenn der Wartepflichtige seinerseits die zulässige Geschwindigkeit überschritten hatte.
- Will der der Wartepflichtige dem an sich Vorfahrtsberechtigten eine (Mit-)Haftung, die über die Betriebsgefahr hinausgeht anlasten, muss er einen unfallursächlichen Verkehrsverstoß nachweisen. Dazu hat er zwei Möglichkeiten.
- Er weist nach, dass der Vorfahrtsberechtigte zu schnell gefahren ist.
- Er weist zumindest nach, dass der halb Vorfahrtsberechtigte diejenige Geschwindigkeit überschritten hat, die aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse für ihn erforderlich war, um seine eigene Wartepflicht zu beachten. Dazu muss der Wartepflichtige die Sichtbehinderung und die zu hohe Geschwindigkeit des halb Vorfahrtsberechtigten und die Kausalität des Verstoßes beweisen. Im Prozess kann dies nur mittels Sachverständigengutachten erfolgen.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Das Autohaus sollte wissen, dass auch in Fällen der zunächst eindeutig ausschauenden Vorfahrtsverletzung die Schuldfrage nicht immer ganz eindeutig ist und der Geschädigte mithaften kann.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Sachverständigen gilt dasselbe wir für das Autohaus.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Der halb vorfahrtsberechtigte Geschädigte sollte am besten unmittelbar nach dem Unfall Fotos von der Unfallstelle machen. Damit kann er nachweisen, dass er zum Unfallzeitpunkt freie Sicht nach rechts hatte und keine parkenden Autos oder eine Bepflanzung die Sicht nach rechts versperrt haben.