Liegt am Fahrzeug des Geschädigten nach einem unverschuldeten Verkehrsunfall ein Totalschaden vor, erhält der Geschädigte vom Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherung als Schadensersatz grundsätzlich den Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwerts (den sog. Wiederbeschaffungsaufwand) erstattet. Beide Werte legt der Sachverständige in seinem Gutachten fest.
Eine Ausnahme gibt es: Liegen die Reparaturkosten zuzüglich einer etwaigen Wertminderung bis zu 30 % über dem Wiederbeschaffungswert (sog. 130 %-Grenze), kann der Geschädigte diese verlangen, wenn er sein Fahrzeug vollständig und fachgerecht reparieren lässt und er das Fahrzeug mindestens sechs Monate weiter nutzt (vgl. BGH, Urteil vom 15.02.2005, Az. VI ZR 70/04).
Was aber ist, wenn der Geschädigte auch bei geschätzten Reparaturkosten über der 130 %-Grenze reparieren lassen will? Das kann beispielsweise vorkommen, wenn der Geschädigte sein Auto schon sehr lange hat, dieses sehr gepflegt ist und er an das Auto gewohnt ist und kein anderes fahren möchte. Der Wiederbeschaffungswert solcher älteren Autos ist relativ niedrig und die Reparaturkosten überschreiten schnell die 130 %-Grenze. Kann der Geschädigte dann trotzdem die Reparaturkosten geltend machen?
Über diesen Fall hat nun der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 16.11.2021, Az. VI ZR 100/20, entschieden:
Sachverhalt:
Der Kläger macht restlichen Schadenersatz nach einem Verkehrsunfall, bei dem die Beklagte zu 100 % haftet, geltend. Der Sachverständige hatte am beschädigten Fahrzeug einen Wiederbeschaffungswert von brutto 4.500 Euro, einen Restwert von 1.210 Euro und Bruttoreparaturkosten von 7.148,84 Euro festgestellt. Die Beklagte hatte auf Totalschadensbasis abgerechnet. Der Kläger ließ das Fahrzeug für 5.695,49 Euro brutto reparieren und benutzte es weiter. Die Differenz zwischen den angefallenen Reparaturkosten und der Zahlung der Beklagten macht der Kläger in seiner Klage geltend.
Entscheidung:
Lässt der Geschädigte sein Fahrzeug reparieren und liegen die tatsächlichen Reparaturkosten über 130 % des Wiederbeschaffungswertes, hat er grundsätzlich nur Anspruch in Höhe des Wiederbeschaffungsaufwandes im Rahmen der Totalschadensabrechnung (vgl. BGH, Urteil vom 12.10.2021, VI ZR 513/19, und Urteil vom 02.06.2015, Az. VI ZR 387/14).
Dementsprechend hatte der BGH-Senat mit Urteil vom 14.12.2010, Az. VI ZR 231/09, entschieden, dass der Geschädigten in den Fällen, in denen die vom Sachverständigen geschätzten konkret angefallenen Reparaturkosten über der 130%-Grenze liegen, unter folgenden Voraussetzungen Ersatz der der Reparaturkosten verlangen kann: dem Geschädigte gelingt es z.B. unter Verwendung von Gebrauchtteilen, eine fachgerechte und den Vorgaben des Gutachtens entsprechende Reparatur durchzuführen, deren Kosten unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen.
Offengelassen hatte der Senat bisher, ob ein Ersatzanspruch auch dann besteht, wenn für die vollständige und fachgerechte Reparatur des Fahrzeugs Kosten entstehen, die sich unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts auf 101 % bis 130 % des Wiederbeschaffungswerts belaufen (vgl. BGH, Urteil vom 02.06.2015, Az. VI ZR 387/14).
Diese Frage ist nunmehr zu bejahen.
Der Geschädigte kann Ersatz der angefallenen Reparaturkosten und des merkantilen Minderwerts verlangen, wenn es ihm entgegen der vom Sachverständigen auf über 130 % geschätzten Reparaturkosten tatsächlich gelingt, die Reparatur innerhalb der 130 %-Grenze durchzuführen. Wichtig ist, dass eine fachgerechte und den Vorgaben des Sachverständigen entsprechende Reparatur durchgeführt wird und der Geschädigte damit den Zustand seines Fahrzeugs wie vor dem Unfall wieder herstellt, um es nach der Reparatur weiter zu nutzen. Das kann gelingen, wenn mit altersentsprechenden Gebrauchtteilen oder in einer freien Werkstatt zu Stundenverrechnungssätzen, die unterhalb denen einer markengebundenen Fachwerkstatt liegen, repariert wird.
Der ersatzfähige Betrag wird dann nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB durch den tatsächlich entstandenen Reparaturaufwand und nicht die hiervon abweichende Einschätzung des vorgerichtlichen Sachverständigen bestimmt.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Sollte das Autohaus auf Wunsch eines Kunden dessen Auto reparieren, obwohl die vom Gutachter geschätzten Reparaturkosten über 130 % des Wiederbeschaffungswertes liegen, ist dies möglich. Dann muss aber fachgerecht und komplett nach den Vorgaben des Sachverständigen repariert werden. Dabei dürfen Gebrauchtteile verwendet werden oder freie Werkstätten ihre Stundenverrechnungssätze zugrunde legen, die unterhalb der vom Gutachter kalkulierten Sätzen der Markenwerkstatt liegen.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Sachverständigen treten hier keine Besonderheiten auf.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Der Geschädigte eines Verkehrsunfalls, dessen Fahrzeug einen Totalschaden hat, bei dem die geschätzten Reparaturkosten über 130 % des Wiederbeschaffungswerts liegen, kann in seltenen Fällen die Reparaturkosten bei der gegnerischen Versicherung geltend machen. Er muss nach den Vorgaben des Gutachters fachgerecht reparieren, darf aber günstigere Gebrauchtteilen verwenden oder bei einer freien Werkstatt reparieren lassen, die günstigere Stundesätzen hat als diejenigen der Markenwerkstatt im Gutachten. Der Geschädigte kann dann Ersatz der tatsächlich angefallenen Reparaturkosten und die Wertminderung verlangen.