In unserem letzten Newsletter 24/2021 hatten wir die Haftungsfrage bei einer Kollision zwischen einem Linksabbieger und einem Überholer behandelt. Ähnlich umstritten ist die Haftungsfrage, wenn ein Verkehrsteilnehmer einen Spurwechsel vornimmt und es dann zum Unfall mit dem sich auf der anderen Spur befindlichen Fahrzeug kommt. Man ist geneigt, zunächst einmal dem Spurwechsler die Schuld zu geben. Schwierig wird es aber dann, wenn der eine Unfallbeteiligte einen Fahrstreifenwechsel, der andere einen Auffahrvorgang behauptet.
Pflichten des Spurwechslers
Der Spurwechsler muss § 7 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung (StVO) beachten. Danach darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Zudem ist jeder Fahrstreifenwechsel rechtzeitig und deutlich anzukündigen.
Ereignet sich ein Unfall in unmittelbarem zeitlichem und örtlichem Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel, spricht gegen den Fahrstreifenwechsler der Beweis des ersten Anscheins, der einen schuldhaften Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO begründet.
Für eine solche typische Konstellation eines Fahrstreifenwechsels spricht der Umstand, dass sich das Fahrzeug des Unfallverursachers infolge des Fahrstreifenwechsels noch in Schrägstellung befindet.
Im Regelfall haftet der Fahrstreifenwechsler aufgrund eines überragenden Fehlverhaltens alleine. Der Spurwechsler kann den gegen ihn sprechende Anscheinsbeweis erschüttern, wenn der Unfall sich zu einem Zeitpunkt ereignete, zu dem der Fahrstreifenwechsel bereits abgeschlossen war. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn der den Fahrstreifen Wechselnde sich bereits vollständig auf den anderen Fahrstreifen integriert hat und der nachfolgende Verkehr sich auf dieses Kfz einstellen kann.
Fahrstreifenwechsel und Auffahrvorgang
Die schwierige Abgrenzungsfrage tritt dann ein, wenn der eine Unfallbeteiligter einen Fahrstreifenwechsel, der andere einen typischen Auffahrvorgang behauptet.
Gegen den Auffahrenden spricht nämlich auch der sog. Beweis des ersten Anscheins, und zwar dahingehend, dass der Auffahrende entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO).
In solch einem Fall gilt, dass jede Seite die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis beweisen muss, d. h. jeweils einen unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zu einem Fahrstreifenwechsel oder eine typische Auffahrsituation mit einem achsparallelen Anstoß im (längere Zeit) gleichgerichteten Verkehr.
Der Beweis des ersten Anscheins bei einem Auffahrunfall setzt voraus, dass beide Fahrzeuge – unstreitig oder erwiesener Maßen – so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können.
Ein wichtiges Indiz dafür, wie sich Unfall ereignet hat, kann sich aus der Unfallendstellung der Fahrzeuge ergeben:
- Die Schrägstellung eines Kfz ist ein typisches Kennzeichen für einen zum Kollisionszeitpunkt durchgeführten Fahrstreifenwechsel. Dieser Umstand ist geeignet, einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Fahrstreifenwechslers zu begründen (vgl. OLG Hamm, Beschluss v. 27.10.2014, Az. I 9 U 60/14; OLG Schleswig, Urteil v. 22.12.2015, Az. 7 U 111/14, KG Berlin, Urteil v. 22.1.2001, Az. 22 U 1044/00). Es dürfte dann im Regelfall so sein, dass erst einmal von einem Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden als typische Ursache des Unfallgeschehens auszugehen ist und daher zulasten des Fahrstreifenwechslers eine alleinige Haftung besteht.
Allerdings kann auch in diesen Fällen eine verschuldensunabhängige Mithaftung des nachfolgenden Verkehrsteilnehmers – insbesondere bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn – gegeben sein, wenn der nachfolgende Verkehr die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h zum Unfallzeitpunkt deutlich überschritten hat. Durch das zulässige, aber schnellere Fahren als die Richtgeschwindigkeit wird eine besondere Gefahrenlage geschaffen und es ist eine erhöhte Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Dies setzt allerdings voraus, dass sich diese höhere Geschwindigkeit unstreitig bzw. erwiesener Maßen auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat. Die Beweislast für das Überschreiten der Geschwindigkeit wie auch die Ursächlichkeit trägt der Spurwechsler. Kann er diesen Beweis führen, kommt eine Mithaftung in einer Größenordnung von 20 % bzw. 30 % in Betracht.
- Erfolgte dagegen ein achsparalleler Anstoß, spricht dies für einen Auffahrunfall im gleichgerichteten Verkehr, wobei allerdings zusätzlich der Nachweis zu fordern ist, dass die Fahrzeuge sich über einen längeren Zeitraum auf der gleichen Fahrspur bewegt haben.
Kann nicht zweifelsfrei aufgeklärt werden, ob der Fahrstreifenwechsel die entscheidende Ursache für die Kollision war oder der nachfolgende Verkehr aus Unaufmerksamkeit aufgefahren ist, finden die Grundsätze eines Anscheinsbeweises keine Anwendung und es sind lediglich die einfachen Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge zu berücksichtigen. Im Zweifel ist in diesen unaufklärbaren Fällen eine Haftungsteilung von 50 % geboten.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Das Autohaus sollte wissen, dass die Fälle bei denen der eine Unfallbeteiligter einen Fahrstreifenwechsel, der andere einen typischen Auffahrvorgang behauptet, in der Haftungsfrage nicht eindeutig sind. Dem Kunden sollte daher unbedingt die Regulierung des Unfalls durch einen Fachanwalt für Verkehrsrecht empfohlen werden.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Sachverständigen gilt dasselbe wie für das Autohaus.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Der Geschädigte wissen, dass solche Unfallkonstellationen umstritten sind und der genaue Unfallhergang letztendlich nur durch ein unfallanalytisches Gutachten aufzuklären ist. Diese sind kostspielig, so dass ein Gerichtsverfahren nur mit Rechtschutzversicherung zu empfehlen ist.