Bei der fiktiven Abrechnung darf die gegnerische Haftpflichtversicherung den Geschädigten eines unverschuldeten Verkehrsunfalls unter bestimmten Voraussetzungen auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer freien Werkstatt verweisen. Zu diesem Thema hatte der Bundesgerichtshof (BGH) jüngst mit Urteil vom 18.02.2020, Az. IV ZR 115/19, entschieden. Strittig war dabei, ob Preissteigerungen in der Referenzwerkstatt, die erst nach dem Verweis erfolgt sind, zu berücksichtigen sind.
Sachverhalt:
Nach dem von der Klägerin vorgelegten Sachverständigengutachten aus dem Dezember 2016 betrugen die fiktiven Reparaturkosten 5.080,40 Euro. Die Haftpflichtversicherung bezahlte darauf am 20.01.2017 einen Betrag von 3.599,91 Euro. Gekürzt wurden Kosten für die Lackierung des Dachraums und die Beilackierung der Tür, für die Sichtprüfung, Verbringungskosten und UPE-Aufschläge. Zudem wurde die Klägerin auf niedrigere Stundenverrechnungssätze einer nicht markengebundenen Fachwerkstatt verwiesen.
Die Klägerin hatte den Differenzbetrag von 1.480,49 Euro gerichtlich geltend gemacht. Das Amtsgericht hatte ihr daraufhin die (Bei-)Lackierungskosten zugesprochen. Das Landgericht hatte zusätzlich die UPE-Aufschläge zuerkannt, im Übrigen aber die Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision wandte sich die Klägerin gegen die Verweisung auf die niedrigen Stundenverrechnungssätze der Referenzwerkstatt und klagte weitere 929,50 Euro ein.
Entscheidung:
Der BGH hat, soweit das Berufungsgericht die Klage abgewiesen hat, das Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der BGH hat zunächst festgehalten wie folgt:
Der Verweis auf die günstigere Reparaturmöglichkeit war zulässig – diese vom Berufungsgericht getroffene Feststellung war für den BGH bindend. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH muss sich der Geschädigte auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen freien Fachwerkstatt verweisen lassen, wenn der Schädiger folgendes darlegt und beweist: Die Reparatur in dieser Werkstatt entspricht vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Werkstatt und der Schädiger widerlegt gegebenenfalls vom Geschädigten aufgezeigte Umstände, die diesem eine Reparatur außerhalb der markengebundenen Werkstatt unzumutbar machen würden.
Die Preise der von der Versicherung genannten Referenzwerkstatt waren nach dem ausgesprochenen Verweis im Januar 2017 erhöht worden. Diese Preiserhöhung ist jedoch, entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts, in die Schadensbemessung einzubeziehen.
Es sind zwei Zeitpunkte zu unterscheiden.
- Der materiell-rechtlich maßgebliche Zeitpunkt für die Bemessung des Schadensersatzanspruchs in Geld ist der Zeitpunkt, in dem dem Geschädigten das volle wirtschaftliche Äquivalent für das beschädigte Recht zufließt, also der Zeitpunkt der vollständigen Erfüllung.
- Der verfahrensrechtlich relevante Zeitpunkt ist, sofern noch nicht vollständig erfüllt ist, der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung. Dies dient dem Schutz des Gläubigers gegen eine verzögerte Ersatzleistung des Schuldners.
Preissteigerungen vor Erfüllung gehen deshalb in der Regel zu Lasten des Schuldners. Preisänderungen nach vollständiger Erfüllung der Ersatzpflicht spielen dagegen grundsätzlich keine Rolle, auch wenn sie während des gerichtlichen Verfahrens eintreten.
Dies gelte, so der BGH, auch bei fiktiver Abrechnung der Reparaturkosten. Es komme bei der fiktiven Schadensabrechnung nicht auf einen Bezug zu den tatsächlich getätigten Aufwendungen an, vielmehr sei entscheidend, welcher Betrag dem Geschädigten zustehe. Der Schadensersatzanspruch sei von den tatsächlich getätigten Herstellungsmaßnahmen oder von denen, die in Zukunft bevorstünden, losgelöst. Bis zur vollen Bezahlung des objektiv zur Schadensbeseitigung erforderlichen Betrags bzw. bis zur letzten mündlichen Tatsachenverhandlung sind daher Preissteigerungen, die für eine fiktive Reparatur in der Referenzwerkstatt anfallen würden, zu berücksichtigen.
Anders als das Berufungsgericht sah der BGH auf Seiten des Klägerin keinen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht dadurch, dass die Klägerin die Wiederherstellung des beschädigten Kraftfahrzeugs nicht möglichst zeitnah nach dem Unfall durchgeführt habe. Ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht setze voraus, dass es der Geschädigte schuldhaft unterlassen habe, Schaden abzuwehren oder zu mindern. Ein solcher Verstoß sei nicht gegeben, da es grundsätzlich Sache des Schädigers sei, die Schadensbeseitigung zu finanzieren. Der Geschädigte sei zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet, den Schaden zunächst aus eigenen Mitteln zu beseitigen. Dieser Grundsatz würde unterlaufen, sähe man den Geschädigten als verpflichtet an, die Schadensbeseitigung zeitnah nach dem Unfall vorzunehmen.
Vorliegend hatte die beklagte Versicherung den Ersatzanspruch der Klägerin, der sich aufgrund der wirksamen Verweisung nach den Preisen der Referenzwerkstatt richtet, gerade nicht vollständig erfüllt. Denn die Beklagte hatte unberechtigte Abzüge bei den Lackierungskosten und den UPE-Aufschlägen vorgenommen.
Aufgrund dessen ist verfahrensrechtlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung maßgeblich. Zu diesem Zeitpunkt waren die Preissteigerungen in der freien Fachwerkstatt, auf die die Beklagte verwiesen hatte, eingetreten, so dass diese zulasten der Beklagten gehen. Das Berufungsgericht muss daher in einer neuen Verhandlung feststellen, inwieweit die Referenzwerkstatt die Preise für die erstattungsfähige Reparatur erhöht hat. Diese neuen Preise sind dann maßgebend für den Nacherfüllungsanspruch der Klägerin.
Für das Autohaus heißt das Folgendes:
Für das Autohaus treten hier keine Besonderheiten auf.
Für den Sachverständigen heißt das Folgendes:
Für den Sachverständigen treten hier keine Besonderheiten auf.
Für den Geschädigten heißt das Folgendes:
Sofern die gegnerische Haftpflichtversicherung verschiedene Beträge aus den fiktiven Reparaturkosten nicht bezahlt und damit den Anspruch des Geschädigten nicht erfüllt hat, können sich Preissteigerungen, die nach dem Verweis auf die Referenzwerkstatt erfolgt sind, zu Gunsten des Geschädigten auswirken. Häufig stellt sich in der Praxis heraus, dass die Preise, auf die der Versicherer verwiesen hat, veraltet sind und zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Prozesses deutlich höhere Stundenverrechnungssätze berechnet werden. Der Geschädigte sollte daher stets prüfen, ob die damaligen Preise noch gültig sind. Sollte dem nicht so sein, erhält der Geschädigte die höheren Reparaturkosten zugesprochen.
Es wird daher zukünftig darauf ankommen, wann der Anspruch des Geschädigten erfüllt wird. Denn nur durch eine vollständige Erfüllung wird ein Zeitpunkt geschaffen, auf den sich beide Parteien verlassen können. Vielleicht veranlasst dies auch die Versicherungen dazu, ihr Gebaren, verschiedene Positionen bei der fiktiven Abrechnung (unberechtigt) zu kürzen, zu überdenken.